Über Träume
Über Träume
„Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.“
Pippi Langstrumpf

Dieses Wochenende war meine liebe Freundin aus Studienzeiten zu Besuch, die ich nun seit fast 20 Jahre kenne. Wir hatten die letzten paar Jahre keinen Kontakt und haben ihn erst vor Kurzem wieder hergestellt. Das Heranwachsen der eigenen Kinder zeigt einem, wie schnell die Zeit vergeht; je älter sie werden, desto gefühlt schneller vergeht sie. Man erkennt, dass es zwar eine Lebensaufgabe ist, Kinder zu haben, es aber zur Zeit vor den Kindern auch eine Zeit nach den Kindern geben wird. Dass diese viel schneller kommt als man eigentlich dachte - und dass dann noch ziemlich viel Zeit und Leben auch ohne Kinder übrig bleibt, wenn man sie loslassen muss. An diesem typischen Midlife-Punkt kommt man nicht umhin, sich zu fragen, was man stattdessen eigentlich noch im Leben erreichen möchte und welchem Sinn man seinem Leben über das Aufziehen von Kindern und dem dazugehörenden Broterwerb hinaus eigentlich geben möchte - auch wenn man das schon erfüllend findet. Noch prägnanter formuliert: Wofür man eigentlich da ist und welche Aufgabe es ist, die man mitbekommen hat.

Während unserer Gespräche kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich mir immer etwas vorgestellt hatte, dafür gekämpft und den Wunsch dann frei und losgelassen habe - und er sich plötzlich oder irgendwann eingestellt hat. Ohne dass ich dies wirklich erwartet habe, weil es mir selbst viel zu groß erschien und ich nicht das Gefühl hatte, dafür geschaffen zu sein. Dieses Muster zieht sich ziemlich durch mein Leben, sei es die Familien- oder Studienplanung oder spätere Wohnungs- oder Häusersuche. Intuitiv und auf mein Bauchgefühl hörend wusste ich immer: Das ist genau das Richtige für mich, so möchte ich es machen oder leben. Bis sich dann der Verstand einmischte und sagte: Vergiss es, das ist definitiv eine Nummer zu groß für dich, das schaffst du nie! Warum sollen sie gerade dich für diese Wohnung oder dieses Haus auswählen, warum solltest du dieses Examen schaffen? Irgendwie funktionierte es dann aber oft doch und ich war so verwundert darüber und kann es eigentlich bis heute nicht wirklich verstehen.
Natürlich passieren dann auch Dinge, mit denen man nicht rechnet und die man nicht haben möchte, wie ein unerwarteter Auszug, Trennungen oder das Gefühl, alles geht jetzt einfach gar nicht mehr weiter. Aber das Spannende daran: Auch und vermutlich gerade diese Phasen des Umbruchs, der Kapitulation, des Schmerzes und der Trauer, führen es zu dieser schrittweisen Erneuerung und führen uns zu dem Ziel, das wir eigentlich vor Augen haben.
Insofern brauchen wir die unglücklichen Tage genauso wie die glücklichen; die unglücklichen sogar mehr, da wir aus ihnen am meisten lernen können - wenn wir den Mut haben, nicht aufzugeben und weiterzugehen. Zum nächsten Ziel, das auf uns wartet, welches wir schon kennen oder welches sich uns erst zeigen wird.
Woher sollen wir nun den Mut nehmen, das Neue in unser Leben zu lassen? Das Unbekannte, welches uns zugleich fasziniert wie Angst macht und welches wir aus Vernunft oft dankend ablehnen oder nur heimlich probieren. Es ist nicht schlecht, sich mit dem zu begnügen, was man hat. Es ist sogar eine Kunst, das Erreichte wertzuschätzen und zufrieden zu sein.
Wenn da nun aber neue Ideen sind, die uns im Kopf herumschwirren, fern des Materiellen, wieso sollen wir sie uns nicht wenigstens einmal anschauen? Was haben wir zu verlieren? Unsere Selbstachtung verlieren wir schneller, wenn wir es nicht versuchen. Wenn wir etwas versuchen und dann scheitern und fallen, dann können wir Scham und Spott ernten, von uns selbst wie von den anderen. Aber wie lange spottet man wirklich über jemanden, der hinfällt und wieder aufsteht und es von Neuem versucht? Beginnen wir nicht irgendwann, denjenigen für seinen Mut zu bewundern?
Auch meine Freundin sprach öfters von Mut. Es hörte sich dabei so an, als würde der Mutige etwas versuchen und es einfach so schaffen. Das Wichtigste dabei: Es klang, als ob jener keine Angst dabei hätte und es ihm leicht fiele. Ich hingegen hatte das Gefühl, das Gegenteil sei der Fall: Mut entsteht aus einer Idee oder einem Interesse an etwas, das man unbedingt machen oder (immateriell) haben möchte. Dann kommt die Angst und sagt: Vergiss es einfach.
Dem können wir nachgeben und der Angst zustimmen: Stimmt, du hast recht. Ich schaffe das nie, ich habe das noch nie gemacht und ich bin viel zu xy.. dafür. Der Mutige allerdings erwidert der Angst: Na und? Ich weiß, ich habe das noch nie ausprobiert. Aber gerade darum möchte ich es versuchen und schauen, ob ich es schaffen kann. Wenn ich es nicht schaffe, höre ich wieder damit auf. Es macht mir allerdings solchen Spaß, dass ich es wenigstens versuchen möchte. Vielleicht wird dann etwas daraus. Wenn nicht, habe ich es wenigstens versucht.
Der Ängstliche fürchtet die Scham, dabei zu fallen und sich und den anderen nicht zu gefallen. Der Mutige blickt der Scham und der Angst freundlich ins Gesicht, bedankt sich, dass sie gut auf ihn aufpassen und antwortet wie Pipi: „Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.“

So bekommen Träume Leben. So verläuft das Leben. Das Scheitern ist inbegriffen. Es hindert jedoch nicht daran, weiterzumachen. So habe ich nach 30-50 Bewerbungen, nicht zum ersten Mal, mit einem stümperhaften Exposé, welches ich nach bestem Wissen schrieb, einen Buchvertrag bekommen. Für ein Kochbuch - wo ich im Leben weder kochen (lernen), noch darüber schreiben wollte. Einfach, weil ich dachte, so etwas, wie ich es brauche, gibt es noch nicht, das nervt mich gewaltig, immer umdenken zu müssen, also mache ich es einfach selbst.
Ganz nebenbei hat sich damit mein Traum, ein eigenes Buch zu schreiben, erfüllt. Ein Traum, den ich für so unrealistisch gehalten habe, dass er nur ganz leise und heimlich im Verborgenen gedacht werden durfte. Und meine inneren Stimmen mir immer, sobald dieser Traum kam, einredeten: Vergiss es. Du bist niemand. Du bist so unbedeutend, kannst nicht schreiben und niemand interessiert sich für das, was du schreiben würdest. Das Schlimmste: Du weißt selbst noch nicht einmal, worüber du eigentlich schreiben möchtest. Du hast weder eine Schreib-, noch eine Koch- oder Fotografie-Ausbildung. Du kannst das erst machen, wenn du perfekt dafür bist: perfekt dafür ausgebildet und perfekt deinen eigenen Vorstellungen entsprechend.
Als die Angst nach Jahren, in denen ich Schritt für Schritt gelernt habe zu vertrauen, immer etwas kleiner wurde, habe ich mir einfach gesagt: Na gut, dann versuchen wir es einfach, was soll mir schon passieren? Es erfährt ja auch niemand, wenn du scheiterst.
Und nun? Nun denke ich: Wahnsinn, dass du das realisiert hast. Gleichzeitig sehe ich, dass das, was ich daraus gemacht habe, gut, aber nicht perfekt ist. Ich musste Kompromisse machen und Vieles wusste ich nicht, was ich heute anders machen würde. Muss ich mich nun dafür schämen? Nein, es tut mir eher leid. Ich vertröste das Produkt, welches entstanden ist, und sehe, es ist so gut geworden, wie es zu diesem Zeitpunkt hätte werden können. Ich bin so unglaublich dankbar und auch stolz, dass es überhaupt dazu gekommen ist. Dass jemand, zuallererst auch ich selbst, daran geglaubt habe und mir eine Chance gegeben habe. Und ich weiß: Beim nächsten Mal achte ich stärker auf dieses und jenes. Bis ich auch dies noch besser verstanden habe und in einigen Jahren wieder etwas anders machen würde. So ist das Leben. Ein andauernder Lernprozess und eine unglaubliche Wachstumschance.
Nun gehe ich in die Stadt, in der ich lebe, inzwischen meine Heimatstadt, und sehe mein eigenes Produkt im Schaufenster stehen und kann es einfach nicht fassen. Wie es da hingekommen ist? Es scheint, als ob es einfach ins Schaufenster gestellt wurde. Ganz so war es nicht.

Ich bin in den Laden gegangen und habe freundlich schon vor Monaten gefragt, ob der Buchladen nicht gerne mein Buch vorbestellen möchte. Nach dem dritten Mal bin ich wieder hingegangen und habe gefragt, ob es denn inzwischen eingetroffen ist. Da wurde es gesucht. Der Weg führte dabei ganz nach hinten in den Laden, um dann festzustellen, dass es doch weiter vorne stand. Nun habe ich wieder gefragt, ob es denn möglich wäre, das Buch mit zu den themengleichen Büchern ins Schaufenster zu stellen? Ja, das war möglich und so wurde es dorthin gestellt. Wäre ich nicht in den Laden gegangen und hätte ich mich nicht getraut, danach zu fragen, so wäre es zum momentanen Zeitpunkt nicht ins Schaufenster gelangt.
Dieses Schaufenster ist ein besonderes, da ich fast täglich daran vorbeifahre. Also hatte ich, eher unbewusst, mit mir ausgemacht: Wenn du es jemals schaffst, ein Buch zu schreiben, dann möge es bitte auch in diesem Schaufenster stehen. Und zwar neben dem des Arztes aus meiner Stadt, in dessen Praxisräume ich jede Woche zu meiner Osteopathin gehe, dessen Bücher regelmäßig in diesem Schaufenster und in seiner Praxis gleich um die Ecke stehen. So stand mein Buch nun in vorderster Reihe, eine nette Geste der Verkäuferin, die mich sympathisch fand. Das Buch des Arztes stand diesmal nicht dabei.

Zwei Wochen später gehe ich einen anderen Buchladen in der Stadt, um mit meiner Freundin nach neuen Büchern zu stöbern. Eher zufällig und spielerisch dachte ich: Mal sehen, ob mein Buch vorhanden ist. Thalia ist eine große Kette und das Regal überfüllt von neuen und bekannten Kochbüchern. Und ohne es erwartet zu haben steht mein Buch ganz leise in seinem Platz im Regal neben den anderen. Ist das nicht unglaublich?

An der Kasse sprach ich die Verkäuferin darauf an, die sich sofort entschuldigte, mich nicht zu kennen und nachfragen zu müssen, um welches Buch es denn gehe. Hallo - meinte sie wirklich mich? Dann kannte sie sich auch noch etwas mit dem Thema aus und meinte, ihre Kollegin aus der Gesundheits-Abteilung sei selbst von HIT betroffen und hätte es daher im Fokus. Hierfür muss man wissen, dass die Buchhandlungen die aktuellen Bücher jeweils in einer Vorschau von den Verlagen angekündigt bekommen, sich bei Weitem aber nicht alle in den Laden stellen können.
Es soll nun nicht so klingen, als wolle ich mich selbst loben. Ja, ich bin stolz darauf. Vielmehr bin ich jedoch demütig, weil ich immer mehr erkenne, wie viel Glück dabei auch mit im Spiel war und ist. Manche kämpfen dafür und es passiert einfach gar nicht. Soll man deshalb also aufgeben? Vielleicht für eine Weile, wenn es einen wirklich zermürbt und man keinen Sinn mehr findet. Und danach? Danach macht man weiter mit dem, was man gerne machen möchte und probiert es so lange, bis es jemanden gefällt. Und sei es nur sich selbst.
Wie kommt man also dazu, nicht an seine Träume zu glauben und zu denken, sie seien zu groß für einen? Woher will man wissen, ob sie funktionieren, bevor man sie nicht ausprobiert hat? Und wenn sie gut, aber nicht perfekt sind? Wir alle sind Menschen, niemand ist perfekt. Perfektion ist so langweilig. Hindert sie uns wirklich daran, es wenigstens zu versuchen und einfach anzufangen?
Womit möchtest du anfangen? Was möchtest du einfach mal versuchen?
