Lost in boarder
Zwei Bilder über die Klippen von Dover, ähnlich, und doch mit einem eklatanten Unterschied. Das erste obere: die typische Küste Südenglands, ein Urlaubsfoto der Kreidefelsen. Das zweite untere: ebenjene Küste, mit einem Pfahl und durch ein Gitter fotografiert. Worin besteht der Unterschied zwischen beiden Bildern auf der Metaebene?
Zwischen beiden Bildern liegt eine Grenze. Vollzieht sich eine Ab-Grenzung. Grenzüberschreitung nicht möglich.
Eine Frau ist an jenem Tag in diesem August 2022 jenseits dieser Grenze geblieben. Ihr wurde der nicht-EU-Eintritt verwehrt. Es handelt sich um eine junge ukrainische Frau im Flixbus auf dem Weg von Amsterdam nach London. Vielleicht ein Glück für sie über ihren missglückten EU-Austritt? Vielleicht wollte sie lediglich Freunde besuchen oder ein paar Tage Urlaub machen? Leider wurde ihr fehlerhaftes Visum erst an der Fähre in Dunkerque bemerkt. Wir mussten sie ohne ein Wort zurücklassen. Ihre Lücke klaffte fortan im Bus. Es fühlte sich falsch an. Die nicht Englisch sprechenden polnischen Busfahrer trauten sich kaum, beim Zoll nach dem Grund ihres Wegbleibens zu fragen. Also warteten wir zunächst ab und fragten dann angesichts der Zeit doch nach. Mir wurde die Aussage verweigert. Zeitgleich kam einer der Busfahrer mit einer wegweisenden Handbewegung zurück und meinte nur: Visa. Es schien, als passiere ihm dies nicht zum ersten Mal. Im Bus herrschte daraufhin allgemeine Hilflosigkeit nach dieser Gewissheit, die in Schweigen mündete.
Währenddessen wurden auch wir an jeder Grenze auf britischer und französischer Seite doppelt gefilzt, dies nach der gründlichen Pass-Kontrolle und -Nachweis der Busfahrer, mit der wir dachten, die neue EU-Außen-Grenze passiert zu haben. Doch gefehlt, es hieß, einzeln sein gesamtes Gepäck aus dem Bus und Kofferraum herauszusuchen und damit zur Pass-, Gepäck- und Gesichtskontrolle zu gehen. Zeitgleich wurde der Bus mit Spürhunden nach Drogen abgesucht. Kein Wunder, aus Amsterdam, könnte man meinen. Eine sorgsame Ein- und Ausreisepolitik angesichts der neuen Brexit-Lage, ja. Dies während der ersten richtigen Sommerferien mit Reiseverkehr seit der Corona-Pandemie, wie The Week am 30. Juli 2022 im Politik-Artikel: Holiday hell at Dover (S.6) berichtete.
Und dennoch bleibt ein fahler Nachgeschmack beim Blick in die Autofenster der Urlauberschlangen. Plötzlich versteht man, auch aufgrund des Nationalitäten-Mixes der Businsassen, wie es sich anfühlen könnte, sich wie ein Mensch zweiter Klasse aufgrund seiner Nationalität zu fühlen. Primo Levis: „Ist das ein Mensch?“ wurden ebenso wie Bilder von Flüchtlingen im Mittelmeer präsent.
Zurück bleiben eine Frau, mitten am Meer in einer riesigen Containeranlage, sowie das dumpfe Gefühl über den Unmut oder auch der ungeahnten Folgen des Brexit sowie der Corona-Reise-Politik aufgrund von Personalmangel auf der einen, verbunden mit einer nuancierten Machtausübung vielleicht auf anderer Seite. Auch dies nicht allgemeingültig.
The Week berichtet ferner über die Notwendigkeit der Kontrollen jedes einzelnen Autos, welche einen enormen Mehraufwand an Zeit bedeuteten, ebenso, wie Frankreich natürlich nicht verantwortlich für den Brexit ist und man allgemein dankbar über die Gründlichkeit der Passkontrollen sei. Großbritannien sei jedenfalls unzureichend auf den Brexit vorbereitet gewesen. So kommt zu einem diesjährigen Flug- und Zugchaos, von welchem wir auch betroffen gewesen sind, nun ein, auch Brexit-unabhängiges Holiday-Post-Corona-Chaos in Dover und Dunkerque an Fähre und Eurotunnel hinzu. Boris Johnson sei versucht, die Kontrolle über seine Grenzen wiederzuerlangen. Vielleicht sei es sinnvoller, die Sommerferien in diesem Fall bei einem Glas Rosé daheim zu verbringen?
Eine Beobachtung, die uns nachgeht. Keine Einladung zur Diskussion über Un-Mut des Brexit und zur Flüchtlings- sowie Nach-Corona-Politik.
Eine Erfahrung aufgrund eines gestohlenen Katalysators in London im Juni 2022 – nach Canceln unseres Fluges. Sowohl in, als auch außerhalb, der EU sind diese derzeit nicht lieferbar – und dadurch offenbar zum Stehlen, auch aufgrund der enthaltenen Metalle beliebt und zu Tik-Tok-Beliebtheit gelangt. Nach sechswöchiger Rücküberführung des Fahrzeuges, nur halber Kostenübernahme des ADAC durch sich widersprechende Mitarbeiter-Aussagen sowie der Weigerung der Versicherung, die Reparatur zu zahlen, führt das zum Nachdenken über den Sinn und Unsinn des Reisens in der momentanen Zeit. Wann genau nochmals ist diese Welt so krass geworden? Sie war es wohl schon immer. Die fetten Jahre jedenfalls scheinen vorbei zu sein.
